Aus der Krise lernen

Corona, Wissenschaft und Politik

Die öffentliche Gesundheit wurde in den letzten Wochen blitzartig zum höchsten Gut – und einzelne wissenschaftliche Indikatoren zur obersten Regierungslinie. Was lernen wir daraus?

Best Economy forum in Bozen - Foto: © 5seeMEDIA

Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt, Hunger, Ungleichheit, Luftverschmutzung, … an Problemen und globalen Herausforderungen hat es der Menschheit auch vor Corona nicht gemangelt. Und Maßnahmen hätten Millionen Menschenleben gerettet und würden noch viel mehr Menschenleben in der Zukunft retten. Allein durch Luftverschmutzung sterben jährlich nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation 4,2 Millionen Menschen.[1] Jährlich verhungern doppelt so viele, davon drei Millionen Kinder unter fünf Jahren.

Auch der Klimawandel fordert schon heute Opfer durch Wetterextreme, zerstörte Existenzen durch unbewohnbar oder unbewirtschaftbar gemachte Regionen. Trifft er die menschliche Zivilisation erst mit voller Wucht, werden Milliarden betroffen sein, nicht Millionen. Warum verbleiben die Regierungen angesichts dieser Gefahren in geradezu radikal unverhältnismäßiger Weise untätig?

Dafür gibt es mehrere – mehr oder weniger überzeugende – Erklärungsansätze. Der beliebteste, dass Corona unmittelbar die Gesundheit und das Leben von Millionen Menschen bedroht habe, gilt für die Luftverschmutzung und den Hunger ebenso. Der Klimawandel hat z. B. zu 11.500 Hitzetoten 2003 in Frankreich geführt[2], und sehr wahrscheinlich auch zur Destruktionskraft von Wirbelsturm Katrina 2005 in New Orleans, der über 1.800 Menschenleben forderte und mehr als 100 Milliarden US-Dollar Schaden anrichtete. Das Argument sticht also nicht wirklich.

Eine zweite Erklärung liegt darin, dass mächtige Lobbys verhindert haben, was die Mehrheit der Menschen längst unterstützt: ebenso wirksame Maßnahmen gegen Treibhauseffekt, Artenverlust und Ungleichheit. Ein Anschauungsbeispiel ist das Thema Kliamawandel in Deutschland: Während die Herzen der Bevölkerung der FFF-Jugend zuflogen und Greta Thunberg zum Medienstar avancierte, ist das Klimaschutzpäckchen der Bundesregierung mit freiem Auge kaum zu erkennen.

Die dritte Erklärung liegt darin, dass uns die täglichen Opfer durch soziale und ökologische Ungleichgewichte nicht mit gleicher Penetranz vor die Nase gesetzt werden wie die Infizierten, Erkrankten, Hospitalisierten und Toten durch Corona. Bei gleich dramatischer medialer Inszenierung anderer Gefahren wäre die Bereitschaft der Bevölkerung, auf das tägliche Schnitzel zu verzichten, Fahrrad statt SUV zu fahren oder eine Vermögens- und Erbschaftssteuer zu akzeptieren vielleicht gleich hoch wie die Hinnahme der Freiheitseinschränkungen bis zur Beschneidung der Grundrechte.

Eine "science based" Entscheidungsgrundlage für die Politik wurde ja schon länger und auch für andere Probleme gefordert. Ein solcher Zugang ist im Fall der Wirtschaftswissenschaft jedoch auch problematisch, weil diese ihren Fokus auf vergleichsweise Irrelevantem hat. Ihre Aufmerksamkeit haftet primär an finanziellen Größen wie BIP-Wachstum, Leistungsbilanzen oder Aktienkursen – die uns beinahe als tägliches Brot von den Medien serviert werden, obwohl sie erwiesener Maßen keine Garanten für Lebensqualität, Gesundheit oder Glück sind. Die Lieblingsindikatoren der Wirtschaftswissenschaft weiter zu folgen würde somit nicht zum gewünschten Ergebnis, sondern seiner gezielten Verfehlung führen.

Im Unterschied dazu würde eine interdisziplinäre Herangehensweise – die Betrachtung aller Gefahren in einem Gesamtbild – helfen, die wesentlicheren Risiken von den unwesentlicheren zu unterscheiden; daraus könnten die wirklich relevanten politikleitenden Indikatoren abgeleitet werden.

Im Corona-Krisenmanagement war der berühmte Replikationsfaktor 1 oberste Regierungslinie. Dieser musste unterschritten werden, bevor an die Wiedergewährung der Grundrechte zu denken war. Ob dieser Indikator wirklich der relevanteste war, die Einschränkung von Grundrechten rechtfertigte, werden wir vermutlich erst in der Zukunft erfahren. Bei anderen Indikatoren haben wir schon heute mehr Gewissheit, und sie als Grundlage für Politikänderungen heranzuziehen wäre auch nicht mit der Einschränkung von Grundrechten verbunden. Drei Beispiele seien hier ausgeführt:

  1. Das 1,5-Grad-Ziel. Mensch stelle sich der Übung halber den österreichischen Bundeskanzler oder irgendeine andere Regierungschefin vor, die mit gleicher Inbrunst der Bevölkerung mitteilt, dass „alle zusammenstehen müssen“ (Sebastian Kurz), um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Alle Maßnahmen der Regierung seien auf die Erreichung dieses Ziels ausgerichtet.
  2. 1,7 globale Hektar ökologischer Fußabdruck je Mensch. Nach dem weithin anerkannten Konzept der ökologischen Belastung der Erde stellt der Planet aktuell jedem der acht Milliarden Menschen 1,7 „globale Hektar“ Fußabdruck zur Verfügung. Das ist in Landfläche umgerechnete ökologische Tragfähigkeit der Erde. Diese Fläche reicht aus, um die Grundbedürfnisse aller Menschen zu decken und gleichzeitig die globalen Ökosysteme im Gleichgewicht zu halten – vom Weltklima bis zur Artenvielfalt. Sie reicht hingegen nicht aus, um die Konsumgewohnheiten einer Minderheit von rund einem Fünftel der Menschheit zu bedienen. Deren Überkonsum ist die Ursache, warum die Menschheit schon heute 1,5 Planeten „verbraucht“ oder der berühmte „Welterschöpfungstag“, der in den wohlhabendsten Ländern wie Österreich oder Deutschland auf den Mai oder sogar April vorgerückt ist. Eine Zuteilung von 1,7 globalen Hektar Fußabdruck je Mensch und Jahr würde die Konsummöglichkeiten der Kaufkraftstärksten einschränken, wäre im Unterschied zu den Corona-Maßnahmen aber für niemanden gesundheitsschädlich oder lebensgefährlich. Im Gegenteil: Interdisziplinäre Studien zeigen, dass eine einseitige Ausrichtung des Lebensstils an materiellen Werten weniger glücklich und freimacht. Hingegen führen materielle Genügsamkeit und der Fokus auf gelingende Beziehungen, intakte Umwelt, Zeitwohlstand oder politische Beteiligung zu mehr Glück und Freiheit.
  3. Eine dritte Maßzahl könnte zur Begrenzung der Ungleichheit beitragen. Nach Untersuchungen der Experte*innen für öffentliche Gesundheit Richard Wilkinson und Kate Pickett führt exzessive Ungleichheit zu Erkrankungen an Leib und Seele, schlechter Ernährung, Drogensucht, höheren Selbstmordraten und sinkender Lebenserwartung. Abhilfe schaffen könnte eine dreistufige Einkommens-Untergrenze, z.B. ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle von z. B. 1.000 Euro monatlich netto; ein genereller Mindestlohn von z. B. 1.500 Euro netto sowie ein erhöhter Mindestlohn von z. B. 2.000 Euro monatlich netto für „systemrelevante“ Berufe. Ergänzend könnte eine Einkommensobergrenze mit dem 20-Fachen des Mindestlohns festgelegt werden. Damit würden Jeff Bezos und Bill Gates immer noch Millionäre werden, aber nicht Milliardäre. Psychologischen Studien zufolge wäre das ihrem persönlichen Lebensglück nicht abträglich, hingegen würde eine solche Grenze einen signifikanten Gewinn für die Demokratie und die Freiheit aller bedeuten.

Wie könnten gereifte Demokratien die nächsten Leitindikatoren finden? Die Gemeinwohl-Ökonomie schlägt „demokratische Konvente“ vor. In diesen könnten die 20 Teilziele eines „Gemeinwohl-Produkts“ erarbeitet werden, welches das BIP als höchstes wirtschaftspolitisches Ziel ablöst. Diese 20 Teilziele würden operationalisiert in gut messbare Indikatoren. Diese wären die neue – interdisziplinäre und ganzheitliche – Maßgabe für Politikentscheidungen; anstatt einen Indikator über alles zu stellen, würde das Gemeinwohl-Produkt alle wesentlichen Probleme und Bedürfnisse gemeinsam in den Blick nehmen.

Christian Felber ist Initiator der Gemeinwohl-Ökonomie und der Genossenschaft für Gemeinwohl. Er unterrichtete an sieben Hochschulen und Universitäten und ist aktuell Affiliate Scholar am IASS Potsdam. 15 Buchpublikationen, darunter „Die Gemeinwohl-Ökonomie“ und aktuell "This is not economy. Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaft".

Weitere Infos:

www.ecogood.org

www.christian-felber.at

 

VOX News Südtirol / Christian Felber